Freitag, 15. Juli 2011

01 Life is Hell

Life Is Hell

"Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind, und was weiß ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehen wie vor dem Eingang zur Hölle." – Franz Kafka

08:00 - EPoV

 „Hey Jazz, was gibt’s?“
Ich klemmte mein Handy zwischen meiner Schulter und Ohr ein, während ich gleichzeitig versuchte, meiner kleinen Schwester und mir Frühstück zu machen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich wohl noch gut in der Zeit lag. Ich nahm zwei Schüsseln aus dem Schrank und gab Cornflakes rein.
„Beth, komm schon. Wir müssen bald los.“, rief ich in Richtung Treppe. „Ich bin gleich da.“, antwortete sie.
Morgens war es immer ein Graus sie schnell genug fertig zu bekommen. Wenn Mom da war, übernahm sie das, aber sie hatte heute die Frühschicht im Krankenhaus übernommen, weil eine der anderen Krankenschwestern krank geworden war.
Jazz hatte die ganze Zeit irgendetwas gesagt, aber ich hatte komplett verdrängt, dass ich überhaupt telefonierte. „Sorry, Jazz. Was wolltest du?“
Er stöhnte. „Verdammt nochmal, hör mir zu. Bleib heute zu Hause.“, sagte er aufgeregt. Und damit meine ich nicht die positive Art aufgeregt, mehr aufgeschreckt.
Ich runzelte meine Stirn. „Das geht nicht. Ich schreibe heute in Bio eine Klausur und Bella und ich wollen uns in der ersten Stunde treffen, um nochmal über den Stoff zu gehen. Ich kann da nicht fehlen.“, erklärte ich ihm.
Auf der anderen Seite der Leitung tat es einen Schlag. „Jazz? Was war das?“
„Nichts. Gar nichts. Und die Bioklausur ist egal. Sag Bella auch Bescheid. Ihr bleibt heute zu Hause. Verstanden?“ Ich holte Luft, um ihm zu antworten, aber er erwartete offensichtlich, dass ich seinen Befehl einfach hinnahm, denn er redete sofort weiter. „Gut. Drück Beth von mir.“ Er machte eine Pause und holte tief Luft. „Ich hab dich lieb, kleiner Bruder.“ Und damit legte er auf.
Ich nahm mein Handy wieder in die Hand und schaute es verwundert an. Irgendwas stimme hier doch nicht ganz. Aber bevor ich mir weiter Gedanken darüber machen konnte, stürmte Beth in die Küche und setzte sich an den Tisch.
„Ich hab mich wirklich ganz arg beeilt.“
Ich nickte nachdenklich und schenkte ihr Milch in die Schüssel ein.
„Holst du mich nachher von der Schule ab oder kommt Mommy?“, fragte sie, während sie parallel versuchte, so schnell sie konnte ihre Cornflakes zu essen.
Ich schüttelte kurz den Kopf und versuchte das ungute Gefühl in meiner Magengegend zu ignorieren. „Uhm, ich denke, dass Mommy kommt, aber ich frag sie nochmal, bevor ich dich absetze, in Ordnung?“

„Was meinst du damit, er hat sich seltsam angehört? Nimm mir das jetzt bitte nicht übel, aber dein Bruder benimmt sich oft seltsam.“
Ich verdrehte meine Augen. „Das meinte ich nicht. Er klang irgendwie seltsam. Als ob irgendwas Schlimmes passieren würde. Ich meine, er hat gesagt, dass er mich lieb hat.“
Bella legte ihren Kopf leicht schief und gab mir den besten ‚Das ist nicht dein Ernst, oder?‘ Blick, den sie hatte. „Deshalb machst du dir bereits Sorgen? Und jedes Mal, wenn ich sage, dass ich dich liebe, vermutest du wohl auch, dass die Welt untergeht oder sowas, richtig?“
Ich verengte meine Augen zu Schlitzen. „Haha. Ich hab einfach ein ungutes Gefühl. Jazz benimmt sich sonst nie so. Und außerdem wäre er der erste, der mir ein schlechtes Gewissen einreden würde, wenn ich die Schule schwänzen würde. Und jetzt befiehlt er es mir praktisch?“
Bella seufzte und zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich denke nicht, dass das irgendwas zu bedeuten hat. Vielleicht hat er irgendwas gehört, dass dir irgendwer einen Streich spielen will oder so. Ich hab keine Ahnung. Aber ganz ehrlich, beruhig dich. Oder ist bis jetzt irgendwas passiert?“ Sie zog eine Augenbraue herausfordernd hoch.
Ich senkte meinen Kopf. „Nein, aber-“
„Kein Aber. Du hörst Dinge, die gar nicht da sind. Also können wir jetzt bitte in die Bibliothek gehen, bevor dein Verstand sich irgendeine verrückte Geschichte ausdenken kann, wie beispielsweise fliegende Schweine, die Hausaufgaben fressen?“
Ich verzog mein Gesicht. „Danke für dein Vertrauen.“, grummelte ich, aber folgte ihr brav in die Bibliothek.

„Edward, verdammt, pass doch mal auf. War das richtig?“, fragte Bella frustriert.
Wir saßen an einem der vielen Tische und hatten gerade angefangen zu büffeln. Aber ich starrte mehr gedankenverloren aus dem Fenster, als ihr eine wirkliche Hilfe zu sein.
Ich seufzte und ließ meinen Kopf auf den Tisch sinken. „Sorry, ich hab nicht aufgepasst. Kannst du es nochmal wiederholen?“
Ihre Augen verengten sich und sie schnaufte. „Weißt du, ich hätte bis jetzt noch Schlafen können, aber stattdessen sitze ich hier und versuche mit dir nochmal über alles drüber zu gehen, obwohl du keine Lust hast. Warum mach ich das dann?“ Wütend verschränkte sie die Arme vor der Brust.
„Es tut mir leid okay? Ich konzentriere mich ab sofort? Okay? Ich verspreche es dir.“
Sie sah noch nicht ganz überzeugt aus. „Hmpf.“
„Sag mir, was ich machen soll.“
Sie grinste verschmitzt. „Vielleicht würde mich ein Eis nach der Schule über deine Konzentrationsschwäche hinwegsehen lassen.“
Ich lächelte sie an. „Deal.“
Ich warf noch einen letzten Blick nach draußen und sah wie mein Bruder auf dem Parkplatz parkte. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass er eine halbe Stunde zu früh war, aber wir sprachen hier von Jasper. Er kam auch mit 40°C Fieber in die Schule, nur damit er ja nichts verpasste. Also nicht weiter verwunderlich.
„Also die verschiedenen Phasen der Mitose sind…“

„Chicago.“
Bella sah verwirrt zu mir. „Was war das denn für eine seltsame Durchsage?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist jemand auf den Knopf gekommen.“
Doch meine Vermutung erwies sich schnell als falsch, als die Lehrerin, die gerade in der Bibliothek war, bleich wurde und uns alle dazu aufforderte, uns ruhig unter die Tische zu bewegen. Sie eilte indes zur Tür, schloss dieses ab und ließ den Schlüssel quer stecken. Huh.
Bella und ich setzten uns langsam unter den Tisch. „Was ist denn los?“, flüsterte sie. Ich zuckte ratlos mit den Schultern. Das ungute Gefühl wurde stärker.
„Wahrscheinlich nur eine Übung oder so. Ist sicher gleich vorbei.“ Sie nickte wenig überzeugt und warf einen Blick auf die Uhr. 9:04am.
Plötzlich keuchte ein Schüler unter einem der Tische auf. Man konnte hören, wie sämtliche Köpfe im Raum sich in seine Richtung drehten. „Ich… uhm… nun… ein Freund von mir hat mir eine SMS geschickt…“
Jeder verdrehte die Augen. Und ich hatte schon gedacht, jetzt kommt was Wichtiges.
„Er… er schreibt, dass da unten ein Schüler rumläuft und… und Leute erschießt.“, wimmerte der Junge.
Im Raum wurde es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Hätte mein ungutes Gefühl mich auslachen können, es hätte sich krank gelacht.
Einer der anderen Schüler fragte ihn, ob er denn wisse, wer das war. Er zuckte mit den Schultern. „Irgendein Jasper oder so. Keine Ahnung, ich hab noch nie was von dem gehört.“
Mir blieb die Luft weg. Neben mir hörte ich Bella aufkeuchen. Ich war mir sicher, wenn ich mich in diesem Moment zu ihr hätte umdrehen können, hätte ich denselben entsetzten Gesichtsausdruck auf ihrem Gesicht gesehen, denn ich auch sicherlich trug. Das konnte nicht wahr sein.
Ich wandte mich zu dem Jungen. „Bist du dir da ganz sicher?“, hakte ich schnell nach.
Er sah mich verblüfft an und nickte. „Guck doch selbst.“ Er hielt mir sein Handy hin und dort stand eindeutig Jaspers Name in der SMS.
Ich fing langsam an, meinen Kopf zu schütteln. Das konnte nicht wahr sein.

Eine gefühlte Ewigkeit nach der Durchsage hörten wir, wie Autos vor der Schule ankamen und Leute ausstiegen. Gott, hoffentlich war das die Polizei. Bella hatte sich an mich gepresst und seit den Nachrichten, dass Jasper gerade ein Blutbad in der Schule anrichtete, nicht mehr bewegt. Ich konnte sehen, dass ihr Tränen über die Wangen liefen, aber war selbst so maßlos mit der Situation überfordert, dass ihr nicht helfen konnte.
Als mein Handy klingelte, zuckten alle Anwesenden zusammen. Ich hatte beinahe einen Herzinfarkt. Zitternd nahm ich es in die Hand und schaute, wer versuchte mich zu erreichen. Mom.
„Mom?“, flüsterte ich.
Ich hörte ein Schluchzen am anderen Ende. „Oh Gott! Du gehst dran. Oh Gott sei Dank.“, weinte sie. „Geht es dir gut? Ist Bella bei dir? Wo seid ihr? Ist euch irgendwas passiert? Wurdet ihr angeschossen?“
„Mom, beruhig dich. Ich… es geht uns gut. Wir sind in der Bibliothek. Uns geht es allen gut.“, versuchte ich ihr zu versichern, obwohl ich mich am liebsten wie ein kleiner Junge in ihre Arme geworfen und geweint. Aber da das gerade keine Option war, musste das warten. Oh Gott hoffentlich nur warten.
Ich hörte einen Mann auf meine Mutter einreden. „Okay… uhm… Baby, einer der Polizisten möchte mit dir reden, okay?“
„Mhm.“
„Hallo Edward. Meine Name ist Captain Cooper. Edward, wo genau befindest du dich?”
„In der Bibliothek im zweiten Stock im Westflügel der Schule.“
„Gut.“ Im Hintergrund konnte man hören, wie zwei Männer anfingen zu diskutieren. „Wie viele Menschen sind mit dir in der Bibliothek?“
Ich schaute mich kurz um. „Etwa fünfzehn, schätze ich.“
„Habt ihr die Tür abgeschlossen und euch unter die Tische gesetzt?“
Ich nickte, bis ich realisierte, dass er das ja nicht sehen konnte. „Ja.“
„Sehr gut. Nun hör mir gut zu, Edward. Wir werden euch da raus holen. Ihr müsst keine Angst haben. Wir holen euch so schnell wir können. Ihr habt alles richtig gemacht. Aber eine letzte Frage habe ich noch. Weißt du, wer die Person ist?“
Er musste nicht weiter erläutern, was für eine Person er meinte. Ich schluckte hart. „Ja, mein Bruder, Jasper Whitlock.“
„In Ordnung, Junge. Atme tief durch. Wir kommen bald.“
Scheinbar reichte er das Telefon an meine Mutter weiter, denn die weinte zwei Sekunden später wieder in den Hörer. „Jasper? Es ist Jasper? Oh mein Gott. Wieso?“
„Mom, ich weiß es nicht.“
Sie versuchte scheinbar tief durchzuatmen und murmelte die ganze Zeit, dass alles gut werden würde.
„Sie haben gerade versucht ihn zu kontaktieren, aber er geht nicht ans Handy.“
Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte ich am liebsten gesagt, dass mich das nicht wirklich wunderte. Seit wann nahmen Amokläufer auch mal eben das Handy ab, um das Blutbad, das sie anrichteten, mal eben zu unterbrechen. Okay, tief durchatmen. Sarkasmus bringt gerade gar nichts.

Etwa eine halbe Stunde später hörten wir weitere Fahrzeuge vor die Schule fahren. Seit etwa einer viertel Stunde konnten wir unter uns vereinzelte Schüsse hören.
„Das SWAT-Team ist da. Baby, es dauert nicht mehr lang. Sie sind bald bei euch.“, wimmerte meine Mutter wenig überzeugend. Bisher waren alle Versuche der Polizei, Jasper zu kontaktieren oder genauer ausfindig zu machen, gescheitert. Nachdem er scheinbar auf einen der Beamten gezielt und einen Warnschuss abgegeben hatte, hatten sie die Entscheidung getroffen, das SWAT-Team miteinzubeziehen.
Mein Handyakku machte langsam schlapp. Warum hatte ich das dämliche Teil auch nicht über Nacht geladen. Bella hatte ihr Handy gleich ganz vergessen.
„Mom, wenn du gleich nichts mehr hörst, dann ist mein Handyakku leer, okay?“
Als ich keine Antwort mehr bekam, sah ich auf den Display. Schwarz. Hoffentlich hatte sie das noch gehört.

Wir hörten ein Rütteln an der Tür. Alle im Raum zuckten zusammen, nur um sich anschließend so eng wie möglich aneinander zu pressen. Ein Schuss ertönte und im nächsten Moment flog die Tür auf.
Ich traute mich gar nicht hinzusehen. Ich wollte nicht meinen Bruder sehen, wie er dort stand, mit erhobener Waffe. Er hatte Menschen erschossen. Mein Bruder hatte Menschen erschossen.
„Alle aufstehen! Sofort! Ich will eure beschissenen Gesichter sehen!“, schrie er wütend.
Keiner regte sich. Bella sah mit weit geöffneten Augen zu ihm.
„Wenn ihr nicht sofort alle aufsteht, erschieße ich eben jeden von euch!“
Langsam aber sicher begannen alle sich zu erheben. Sie legten alle ihre Hände hinter ihre Köpfe. Die Mädchen weinten und auch einige der sonst so harten Kerle.
Ich bewunderte indes den Mut derer, die zuerst aufgestanden waren. Er hatte eine Waffe und hatte sie bereits benutzt. Obwohl er mein Bruder war, hatte ich eine tierische Angst davor, aufzustehen. Ich versuchte in den letzten Sekunden, bevor ich meinem Körper den Befehl gab, sich aufzurappeln, mir einzureden, dass das nicht mein Bruder war. Jasper war zu Hause. Jasper würde niemals einem Menschen ein Haar krümmen. Jasper war ein ruhiger, ausgeglichener, äußerst intelligenter Mensch. Jasper würde so etwas niemals tun.
„ALLE!“, schrie er aufgebracht.
Bella und ich erhoben uns langsam, ebenfalls die Hände hinter dem Kopf liegend. Ich spürte, wie meine Knie so heftig zitterten, dass ich glaubte, jeden Moment wieder umzufallen. Bella schluchzte und zitterte am ganzen Körper. Hätte ich nicht eine solche Angst gehabt, dass er die Bewegung falsch verstehen und schießen würde, hätte ich sie in den Arm genommen.
Als ich richtig stand, blickte ich nach vorne. Dort stand er. Mein Bruder.
Ich erkannte ihn kaum wieder. Seine Haare waren wild durcheinander, seine Klamotten dreckig und teilweise kaputt. Aber sein Blick war das, was mir am meisten Angst macht und mich am meisten verstörte. Sein Blick war gehetzt und wild und gefährlich. Er sah so aus, als ob er nicht wirklich bei sich war.
Als sein Blick auf einen der Footballspieler fiel, schreckte ich beinahe zurück. Er sah ihn so hasserfüllt an. Tyler, der Footballspieler, sah verängstigt zu der Waffe. In der nächsten Sekunde hörte man einen lauten Knall und Tyler war aus meinem Blickfeld verschwunden.
Ich riss meine Augen auf. Jasper hatte gerade auf Tyler geschossen.
Die Mädchen fingen an zu schreien und Bella sprang mir praktisch an die Arme und klammerte sich an mir fest. Schnell legte ich meine Arme um sie und zog sie an mich.
Jasper war die Bewegung nicht entgangen und richtete seine Augen auf uns. Erst schien er mich nicht zu erkennen und ich fürchtete schon, dass er einfach auf uns schießen würde, aber dann sah er mich für einen Augenblick so an wie sonst, wie mein großer Bruder, wenn er sich Sorgen machte.
"Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht kommen. Verdammt, Edward! Wenn er dich erwischt, bist du tot!", schrie er mich plötzlich an.
Ich sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Wen meinte er? Ich sah ihn verwirrt an.
"Du musst hier verschwinden! Los! Du und Bella. Ihr müsst hier weg. Wenn er dich findet, bringt er dich um.", erklärte Jasper hektisch und fuchtelte wild mit der Waffe rum. Bella wimmerte leise und presste sich an mich.
Jasper sah sich gehetzt um. „Edward, ihr müsst hier raus. Wenn er dich hier findet, bringt er dich um!“
Ich schüttelte meinen Kopf. „Ich… Jazz… wer?“ Meine Stimme brach.
Jasper sah mich beinahe hilfesuchend an. „Los! Schnell! Ihr müsst hier raus!“, wiederholte er nur.
Vielleicht konnte ich auf ihn einreden und ihn dazu bewegen, die Waffe wegzulegen. Vielleicht bringst du dich damit auch nur ziemlich sicher um, erwiderte mein Verstand. Ich schüttelte nochmal meinen Kopf, befreite mich aus Bellas eisernem Griff und machte einen zögerlichen Schritt auf meinen Bruder zu. „Jasper, beruhig dich. Wen meinst du?“, hakte ich vorsichtig nach.
Dann ging alles ganz schnell. Emmett, einer meiner guten Freunde, hielt mich am Arm fest und schüttelte schnell seinen Kopf. „Alter, das ist keine gute Idee.“, zischte er. Aber, bevor ich irgendwas erwidern konnte, schrie Jasper ihn an. „Lass ihn los, James! Lass ihn los. Er hat dir nichts getan! Du hast getan, du lässt ihn in Ruhe, wenn ich mache, was du gesagt hast!“
Ich sah panisch von Jasper zu Emmett. Ich versuchte mich schnell aus Emmetts Griff zu befreien, um Jasper irgendwie vielleicht damit zu beruhigen.
Was als nächstes passierte, lief nicht ab wie in Zeitlupe, wie andere Menschen in Filmen oder dergleichen es beschrieben. Ich sah in einer Sekunde, wie mein Bruder laut aufschrie, dann seine Augen schloss und zuletzt seine Waffe blind auf uns richtete und abdrückte.

Ich hörte leises Wimmern an meiner Seite. Aber ich wusste nicht wirklich von wo genau es herstammte. Alles um mich herum war dunkel und jeder Atemzug tat weh. Schmerz war gut oder? Das bedeutete doch, dass ich lebte oder?
Ich versuchte mich zu bewegen, aber das tat noch mehr weh, als der eine bewusste Atemzug, also ließ ich es bleiben. Aber ich zwang meine Augen auf. Anfangs blinzelte ich gegen das helle Licht an, aber meine Augen gewöhnten sich schnell wieder daran.
Ich war offensichtlich in einem Krankenhaus. An meiner Seite konnte ich Mom schwach erkennen und auf meiner anderen Seite erblickte ich Bella.
„Hey.“, krächzte ich. Meine Stimme klang, als hätte ich sie die letzten Wochen nicht benutzt.
Zwei Köpfe flogen hoch und zwei Augenpaare richteten sich auf mein Gesicht.
Simultan fingen beide an zu weinen und riefen meinen Namen.
Bella streichelte über meine rechte Wange, während Mom dasselbe auf der linken tat.
„Du bist wach.“, weinte Mom. „Wir hatten eine solche Angst um dich.“
So langsam kam bei mir wieder an, weshalb ich überhaupt im Krankenhaus war.
Hektisch sah ich mich um. „Wo ist er? Geht es ihm gut?“
Bella fing neben mir an zu schluchzen. Meine Mutter schüttelte ihren Kopf. „Baby, du musst dich ausruhen.“
Ich schüttelte den Kopf, ignorierte den Schmerz, der damit einherging, und sah sie weiterhin an. „Nein, was ist los? Wo ist Jasper? Er hat irgendwas von einem James geredet. Wer ist James?“
Mom fing nun ebenfalls an zu heulen. Sie schüttelte den Kopf und sah weg. „Edward, Schatz, Jasper weilt nicht mehr unter uns.“
Ich sah sie perplex an. „Nein. Ich hab ihn doch gesehen. Wo ist er? Hat die Polizei ihn verhaftet? Mom, ich glaube, Jasper geht es nicht gut.“
Sie schüttelte weiterhin ihren Kopf, bis Bella sich neben mir regte. Sie legte beide Hände auf meine Wangen und brachte mich dazu, sie anzusehen. „Edward, er lebt nicht mehr.“
„Aber-“
„Nachdem er auf dich geschossen hat, habe ich geschrien. Es war, als ob er aus diesem Wahn aufgewacht war. Er hat die Waffe fallen lassen und ist auf dich zugerannt.“ Sie wischte sich schnell ein paar ihrer Tränen weg. „Rosalie hat nach der Waffe gegriffen und auf ihn geschossen, bevor er bei dir und Emmett angekommen ist.“
Ich schüttelte meinen Kopf. „Nein.“
„Er ist noch in der Schule verblutet.“
„Nein.“, wimmerte ich.
„Es tut mir so leid.“, weinte sie.

Man hatte in Jaspers Hosentasche einen Brief gefunden.
‚Heinrich Heine sagte einmal: „Schlaf ist gut, der Tod ist besser; aber auf jeden Fall wäre es das Beste, niemals geboren worden zu sein.“ Es tut mir leid, Edward. Pass auf Beth und Mom auf, ja? – Jasper‘

00 Life is Hell

Bohr, Niels (dän. Physiker 1885-1962):
"Wir sind gleichzeitig Zuschauer und Schauspieler im großen Drama des Seins."

10:03 Uhr


Wir hörten ein Rütteln an der Tür. Alle im Raum zuckten zusammen, nur um sich anschließend so eng wie möglich aneinander zu pressen. Ein Schuss ertönte und im nächsten Moment flog die Tür auf.
Ich traute mich gar nicht hinzusehen. Ich wollte nicht meinen Bruder sehen, wie er dort stand, mit erhobener Waffe. Er hatte Menschen erschossen. Mein Bruder hatte Menschen erschossen.
„Alle aufstehen! Sofort! Ich will eure beschissenen Gesichter sehen!“, schrie er wütend.
Keiner regte sich. Bella sah mit weit geöffneten Augen zu ihm.
„Wenn ihr nicht sofort alle aufsteht, erschieße ich eben jeden von euch!“
Langsam aber sicher begannen alle sich zu erheben. Sie legten alle ihre Hände hinter ihre Köpfe. Die Mädchen weinten und auch einige der sonst so harten Kerle.
Ich bewunderte indes den Mut derer, die zuerst aufgestanden waren. Er hatte eine Waffe und hatte sie bereits benutzt. Obwohl er mein Bruder war, hatte ich eine tierische Angst davor, aufzustehen. Ich versuchte in den letzten Sekunden, bevor ich meinem Körper den Befehl gab, sich aufzurappeln, mir einzureden, dass das nicht mein Bruder war. Jasper war zu Hause. Jasper würde niemals einem Menschen ein Haar krümmen. Jasper war ein ruhiger, ausgeglichener, äußerst intelligenter Mensch. Jasper würde so etwas niemals tun.
„ALLE!“, schrie er aufgebracht.
Bella und ich erhoben uns langsam, ebenfalls die Hände hinter dem Kopf liegend. Ich spürte, wie meine Knie so heftig zitterten, dass ich glaubte, jeden Moment wieder umzufallen. Bella schluchzte und zitterte am ganzen Körper. Hätte ich nicht eine solche Angst gehabt, dass er die Bewegung falsch verstehen und schießen würde, hätte ich sie in den Arm genommen.
Als ich richtig stand, blickte ich nach vorne. Dort stand er. Mein Bruder.
Ich erkannte ihn kaum wieder. Seine Haare waren wild durcheinander, seine Klamotten dreckig und teilweise kaputt. Aber sein Blick war das, was mir am meisten Angst macht und mich am meisten verstörte. Sein Blick war gehetzt und wild und gefährlich. Er sah so aus, als ob er nicht wirklich bei sich war.
Als sein Blick auf einen der Footballspieler fiel, schreckte ich beinahe zurück. Er sah ihn so hasserfüllt an. Tyler, der Footballspieler, sah verängstigt zu der Waffe. In der nächsten Sekunde hörte man einen lauten Knall und Tyler war aus meinem Blickfeld verschwunden.
Ich riss meine Augen auf. Jasper hatte gerade auf Tyler geschossen.
Die Mädchen fingen an zu schreien und Bella sprang mir praktisch an die Arme und klammerte sich an mir fest. Schnell legte ich meine Arme um sie und zog sie an mich.
Jasper war die Bewegung nicht entgangen und richtete seine Augen auf uns. Erst schien er mich nicht zu erkennen und ich fürchtete schon, dass er einfach auf uns schießen würde, aber dann sah er mich für einen Augenblick so an wie sonst, wie mein großer Bruder, wenn er sich Sorgen machte.
"Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht kommen. Verdammt, Edward! Wenn er dich erwischt, bist du tot!", schrie er mich plötzlich an.
Ich sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an.
Was war hier los?